Die Wikinger

Im Zeitraum von 800 bis 1050 n.Chr. hielten die nordischen Völker ihren dramatischen Einzug in die europäische Arena. Sie stürmten vorwärts, die festgefügten Gemeinschaften terrorisierend, die zwar an Krieg gewöhnt waren, nicht aber an die Überraschungstaktik der Wikinger. Der Kontakt zwischen Skandinavien und dem übrigen Europa war jedoch nichts Neues. Archäologische Funde zeigen, daß Handel und kultureller Einfluß mehrere Jahrtausende zurückverfolgt werden können. Trotzdem war das nordische Gebiet ein abseits gelegener Winkel mit geringem politischen und wirtschaftlichen Wert für das übrige Europa.

Das Bild änderte sich kurz vor 800. Im Jahre 793 wurde das Kloster Lindisfarne an der Ostküste Englands von fremden Seefahrern geplündert, und gleichzeitig finden wir die ersten Aufzeichnungen über Überfälle andernorts in Europa. Chroniken und Berichte über die nächsten 200 Jahre strotzen von Schreckenstaten der Wikinger. Kleinere und größere Gruppen von Schiffen griffen sämtliche Küsten Europas an. Die Wikinger segelten die Flüsse Frankreichs und Spaniens hinauf, eroberten den größten Teil Irlands und weite Gebiete von England und besetzten Gebiete entlang den Flüssen in Rußland und an der Ostseeküste. Es wird von Beutezügen im Mittelmeerraum berichtet, die weit nach Osten bis zum Kaspischen Meer vordrangen. Von Kiew kommende Nordleute waren sogar so tollkühn, einen Angriff auf Konstantinopel, die Hauptstadt des Oströmischen Reiches, zu versuchen.

Mit der Zeit wurden die reinen Beutezüge durch Kolonisation ersetzt. Ortsnamen erzählen von einer großen Wikingerbevölkerung in Nordengland, mit York als Zentrum. Ein großes Gebiet weiter südlich in England bekam den Namen Danelaw. In Frankreich erhielt ein Wikingerhäuptling vom französischen König die Normandie als Lehen, um andere Wikinger fernzuhalten. Die Inseln nördlich von Schottland bekamen eine gemischte keltisch-altnordische Bevölkerung, und auf Island und Grönland entstanden blühende Gemeinschaften.

Der letzte Vorstoß nach Westen war der mißlungene Versuch, in Nordamerika Siedlungen zu gründen. Um das Jahr 1000 entdeckten Leute aus Island oder Grönland Land weiter westlich, und die Sagas erzählen von mehreren Fahrten, wo Menschen versuchten, in dem neuen Land Wurzeln zu schlagen. Die Kolonisatoren gerieten in Konflikt mit entweder Indianern oder Eskimos und gaben auf.

Versuche, die Länder zu lokalisieren, in denen sich Nordleute niederließen, führen ­ je nachdem, wie die Isländischen Sagas ausgelegt wurden ­ von Labrador bis Manhattan. In den 1960er Jahren fanden Anne-Stine und Helge Ingstad Siedlungsreste an der Nordküste Neufundlands. Die Ausgrabungen zeigten, daß es sich um Überreste von Häusern desselben Typs handelte wie die auf Island und Grönland. Es wurden auch altnordische Gegenstände gefunden, die man um das Jahr 1000 datiert hat. Ob dies die Spuren nach den Fahrten sind, von denen die Sagas berichten, oder von anderen Fahrten, über die es keine schriftlichen Quellen gibt, läßt sich unmöglich mit Sicherheit sagen. Die Funde sind auf jeden Fall der sichere Beweis dafür, daß nordische Seefahrer ­ wie in den Sagas nachzulesen ­ um das Jahr 1000 wirklich zum nordamerikanischen Kontinent gesegelt waren.

Welche Ursachen hatte die gewaltige Expansion im Laufe von nur wenigen Generationen? Stabile Staatsgründungen wie das Fränkische Reich und die angelsächsischen Königtümer in England hatten den Angreifern offensichtlich wenig entgegenzusetzen. Das Bild, das uns die schriftlichen Quellen vermitteln, ist vermutlich davon gefärbt; die Wikinger werden als schreckliche Räuber und Banditen dargestellt. Sicherlich waren sie das, aber sie müssen außerdem noch andere Eigenschaften gehabt haben. Einige ihrer Führer müssen höchst fähige Organisatoren gewesen sein. Zwar konnte mit Hilfe einer wirkungsvollen militärischen Taktik ein Krieg gewonnen werden; außerdem aber gründeten die Wikinger in eroberten Gebieten Königtümer. Einige wie zum Beispiel in Dublin und York überlebten die Wikingerzeit nicht; Island aber ist noch immer eine blühende Nation. Das Wikingerkönigtum in Kiew wurde zur Basis des Russischen Reiches, und die Spuren des hervorragenden Organisationstalents der Wikingerhäuptlinge sind noch heute deutlich sichtbar auf der Isle of Man und in der Normandie. In Dänemark hat man vom Ende der Wikingerzeit die Überreste von Verteidigungsanlagen gefunden, die als Sammelplatz für große Armeen dienten. Die Burgen sind kreisrund und in Quadranten aufgeteilt, mit quadratischen Gebäuden in jedem der vier Abschnitte. Die Burgen sind mit einer Präzision angelegt, die den ausgeprägten Sinn der Führer für Systematik und Ordnung bezeugt. Am Hof des dänischen Königs muß es gründliche Kenntnisse über Landvermessung und Geometrie gegeben haben.

Außer den westeuropäischen Schilderungen haben wir schriftliche Quellen von anderen Zeitgenossen der Wikinger ­ von reisenden Arabern und aus Byzanz. Kurzgefaßte Inschriften sind uns in der Heimat der Wikinger ebenfalls hinterlassen worden ­ in Holz und Stein geritzte Runen. Die Geschichten der Sagas aus dem 12. und 13. Jahrhundert haben uns ebenfalls viel über die Wikingerzeit zu erzählen, obwohl sie viele Generationen nach der Zeit geschrieben wurden, die sie schildern.

Die Wikinger kamen aus dem Gebiet, das heute Dänemark, Schweden und Norwegen ist. Es war eine sich selbst versorgende bäuerliche Gesellschaft, wo Ackerbau und Viehzucht durch Jagd, Fischfang, Eisengewinnung und den Abbau von besonderen Gesteinsarten zur Herstellung von Wetzsteinen und Kochgerät ergänzt wurden. Obwohl es den Bauern gelang, das meiste selbst herzustellen, wurden gewisse Produkte gehandelt ­ zum Beispiel das für Mensch und Tier wichtige Salz. Das Salz ist eine Alltagsware, die wahrscheinlich nicht über weitere Strecken als notwendig herangeschafft wurde, während Luxusartikel aus dem südlicheren Europa importiert wurden. Eisen, Wetzsteine und Kochgerät aus Speckstein waren Exportartikel und wesentliche Ursache für das Aufblühen des Handels in der Wikingerzeit. Selbst in der Periode, als Wikingerüberfälle an der Tagesordnung waren, wurde zwischen Westeuropa und dem Heimatland der Wikinger Handel getrieben. Einen der wenigen Berichte, die wir über die Verhältnisse in Norwegen in der Wikingerzeit haben, verdanken wir dem nordnorwegischen Häuptling Ottar. Er besuchte König Alfred von Wessex als friedlicher Kaufmann, während Alfred gleichzeitig mit anderen Wikingerhäuptlingen regelrecht Krieg führte.

Eine Theorie schlägt als Ursachen für die Expansion in der Wikingerzeit Überbevölkerung und Ressourcenknappheit im Heimatland vor. Das archäologische Material bezeugt, daß parallel zur Expansion ins Ausland in dünn besiedelten Waldgebieten neue Höfe entstanden. Somit ist Überbevölkerung sicherlich ein mitwirkender Faktor. Eisengewinnung ist möglicherweise ein weiterer. Genügend Eisen, um für alle, die sich auf Kriegszug begaben, Waffen schmieden zu können, war für die Wikinger gleichbedeutend mit taktischer Überlegenheit.

Der Schiffbau im Norden ist vermutlich ein zusätzliches wesentliches Element der taktischen Überlegenheit der Wikinger. Ein bekannter schwedischer Archäologe hat geschrieben, die Wikingerschiffe seien die einzigen wirklich seegängigen Landungsfahrzeuge, die je von Invasionstruppen verwendet worden seien. Selbst in dieser übertriebenen Formulierung steckt viel von dem Geheimnis der militärischen Überlegenheit der Wikinger. Zahlreiche uns vorliegende Berichte über Wikingerangriffe scheinen diese These zu untermauern. Das Überraschungsmoment spielte eine große Rolle. Ein rascher Angriff vom Meer her ­ mit Schiffen, die ohne Hafen auskamen und sich deshalb dort der Küste nähern konnten, wo man sie am wenigsten erwartete ­, und ein ebenso rascher Rückzug, bevor es zur Gegenoffensive kommen konnte; das war die Taktik.

Zwischen dänischen, schwedischen und norwegischen Wikingern bildeten sich Interessensphären heraus ­ und zwar obwohl Gruppen aus allen drei Nationen häufig gemeinsam teilnahmen, wenn berühmte Häuptlinge die Segel setzten. Die Schweden zogen meistens ostwärts und hatten die Kontrolle über die Wasserstraßen im Inneren Rußlands und damit über die Handelswege nach Osten. Große Mengen arabischer Silbermünzen in schwedischen Funden erzählen von einem lebhaften Handel. Die Dänen zogen nach Süden ­ nach Friesland, Frankreich und Südengland, während die Norweger sich nach Westen und Nordwesten begaben ­ nach Nordengland, Schottland und Irland sowie zu den Orkneys, Shetlands und Färöern.

Die Schiffe waren nicht nur für Eroberungen und Handel unerläßlich, sie waren auch Voraussetzung für eine erfolgreiche Kolonisation, wenn ganze Familien mit all ihrer Habe und ihren Haustieren an Bord Kurs auf neues Land nahmen, wo sie sich niederlassen würden. Die gefahrvollen Fahrten über den Nordatlantik zu den Orkneys, Shetlands und Färöern sowie nach Island und Grönland bezeugen, daß die Schiffbauer der Wikingerzeit nicht nur schnelle Schiffe für Überfälle im Nordseeraum bauen konnten, sondern auch äußerst seetüchtige Schiffe. Die Kolonisation begann, wenn Seefahrer neues Land entdeckten, oder wenn Männer von ihren Handels- und Beutezügen heimkehrten und die Nachricht von den weit besseren Verhältnissen verbreiteten, die im Ausland herrschten.

In einigen Gegenden scheinen die Wikinger die ursprünglichen Einwohner vertrieben zu haben. In anderen, wie etwa in Nordengland, scheint das Hauptunternehmen der Nordleute Viehzucht gewesen zu sein, und sie nutzten Land, für das die ursprünglich dort ansässigen Getreidebauern nur wenig Verwendung gehabt hatten.

Diejenigen, die nach Island und Grönland fuhren, fanden jungfräulichen Boden vor. Abgesehen von einigen wenigen irischen Mönchen auf Island ­ "die die Insel aber schon bald verließen, weil sie keine Heiden zu Nachbarn haben wollten" ­ scheinen Island und die Teile Grönlands, die von den Wikingern kolonisiert wurden, bei der Ankunft der Nordleute unbewohnt gewesen zu sein.

Zeitgenössische Aufzeichnungen über die Wikinger stammen größtenteils von Quellen in Westeuropa, die mit den Eindringlingen bittere Erfahrungen gemacht hatten. Es besteht daher kein Zweifel, daß es die schlechtesten Seiten der Wikinger sind, die uns hier präsentiert werden. Archäologische Ausgrabungen sowohl im Heimatland der Wikinger als auch an den Orten, an denen sie sich niedergelassen hatten, geben dem Bild wesentlich mehr Nuancen. Wir haben Funde von Siedlungen, Gehöften und Marktplätzen, wo verlegte oder beschädigte Gegenstände von einem einfachen täglichen Leben erzählen. Es gibt Spuren nach der Eisengewinnung in Gebirgsgegenden, wo Erz in den Sümpfen und genügend Wald die Grundlage für eine blühende Industrie legten. Steinbrüche, aus denen Speckstein für Töpfe oder auch besonders guter Wetzstein geholt wurde, wurden ebenfalls gefunden und analysiert. In einigen günstigen Fällen haben wir in Gegenden, wo später nichts mehr angebaut wurde, altes Ackerland gefunden. Hier können wir die zu Haufen zusammengetragenen Steine sehen, die einst sorgfältig vom Acker aufgelesen worden sind; und bei vorsichtiger Ausgrabung können sogar Furchen zum Vorschein kommen, die der Pflug des Wikingerbauern gezogen hat.

Im Verlauf der Wikingerzeit veränderte sich die Gesellschaft. Führende Häuptlingsfamilien vermehrten ihren Landbesitz und ihre Macht und schufen damit die Voraussetzung für die Gründung von Staaten. Die ersten Städte entstehen, und von Staraja Ladoga und Kiew in Rußland bis York und Dublin auf den britischen Inseln können wir uns eine Vorstellung vom Alltagsleben der Stadbewohner machen. Marktplätze und Städte beruhten auf Handel und Handwerk, und obwohl die Stadt-Wikinger vermutlich Vieh besaßen und Landwirtschaft und Fischerei betrieben, um ihren eigenen häuslichen Bedarf zu decken, waren die Städte sicherlich auf Versorgung aus den umliegenden Regionen angewiesen. In Südnorwegen liegt der Marktplatz in Kaupang bei Larvik. Er wird in Ottars Bericht an König Alfred erwähnt. Kaupang war und blieb Marktplatz, während Birka am Mälarsee in Schweden und Hedeby an der deutsch-dänischen Grenze durchaus als Städte bezeichnet werden können. Diese beiden wurden gegen Ende der Wikingerzeit von den Einwohnern verlassen, während Ribe in Südjütland ­ wie natürlich York und Dublin ­ noch heute blüht. In diesen Städten finden wir gut regulierte Gebiete mit deutlich festgelegten Grundstücksgrenzen, Straßen und die Stadt umgebenden Befestigungen. Es ist offenkundig, daß einige Städte geplant waren. Viele wurden wohl auf Geheiß des Königs angelegt, wo er selbst oder die Männer seines Vertrauens über Stadtplanung und Grundstücksverteilung bestimmten. Wir können sehen, daß der Müllentsorgung nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet wurde wie der Städteplanung. Wir finden dicke Schichten Abfall. Damals müssen Dreck und Gestank höchst unangenehm gewesen sein; heute finden wir Spuren des Alltagslebens ­ von Handwerksabfällen bis hin zu Läusen und Flöhen. So können wir uns ein Bild davon machen, wie die Menschen damals gelebt haben. Wir finden Dinge, die von weither gekommen sein müssen ­ wie etwa arabische Silbermünzen und Reste von Seidenstoffen aus Byzanz ­ neben den Erzeugnissen einheimischer Schmiede, Schuhmacher und Kammacher.

Am Ende der Wikingerzeit wurde das Christentum in den nordischen Ländern allgemein akzeptiert. Es war an die Stelle eines heidnischen Götterglaubens mit all seinen Göttern und Göttinnen getreten, von denen jeder die Macht in einem bestimmten Teilbereich des menschlichen Daseins hatte. Odin, alt und weise, war der Häuptling der Götter. Thor war der Gott der Krieger, während Freya für die Fruchtbarkeit des Bodens und des Viehs sorgte. Loki war der Zauberei kundig, war aber so unzuverlässig, daß die Götter ihm nur wenig vertrauten. Die Götter hatten gefährliche Gegner, die Riesen (Jötun), die die dunklen und düsteren Seiten des Daseins repräsentierten.

Am besten kennen wir die heidnischen Götter aus Schilderungen aus der frühen christlichen Zeit, wobei der neue Glaube diese Beschreibungen möglicherweise gefärbt hat. In Namen von Gehöften wie Thorshov, Frøyshov und Onsaker erkennen wir Namen heidnischer Götter wieder. Namen mit der Nachsilbe "hov" besagen, daß auf dem Gehöft ein heidnischer Tempel gestanden haben muß.

Die Götter hatten menschliche Züge und lebten wie die griechischen Götter des Olymps ein rauhes Leben. Sie bekämpften einander, aßen und tranken. Sterbliche, die im Kampf fielen, gingen direkt an den Tisch der Götter, um mit ihnen zu schmausen, und den Bestattungssitten nach zu urteilen benötigten die Toten im Jenseits die gleiche Ausrüstung wie auf Erden. In der Wikingerzeit wurden die Toten entweder eingeäschert oder aber unverbrannt bestattet. Grabbeigaben waren jedoch in beiden Fällen Sitte. Die Menge der Beigaben spiegelte sowohl Unterschiede in den Bestattungssitten als auch Statusunterschiede in der Gesellschaft wider. In Norwegen gab es besonders reiche Bestattungstraditionen. Daher stellen die Gräber eine überaus fruchtbare Quelle für unsere Kenntnisse über das Alltagsleben der Wikinger dar. Die zahllosen Gegenstände, die zum Gebrauch im Leben nach dem Tod mitgegeben wurden, vermitteln uns einen genauen und detaillierten Einblick in die Welt der Wikinger, obwohl natürlich vieles im Lauf der Zeit zerstört worden ist, so daß von der ursprünglichen Ausstattung eines Wikingergrabs meistens nur Reste übrig sind.

Die Grabfunde ergänzen unser Material von den ausgegrabenen Wohnsiedlungen. Hier ­ in Städten und auf Höfen ­ liegen verlegte und beschädigte Gegenstände, Überreste von Häusern, Essens- und Handwerksabfälle, und in den Gräbern finden wir die schönsten und wertvollsten Gegenstände aus der persönlichen Habe des Toten. In den Gesetzestexten gibt es Andeutungen darüber, daß das, was wir heute Produktionsmittel nennen ­ Land und Vieh ­ der Familie gehörte. Grabbeigaben bestanden ausschließlich aus persönlichem Eigentum.

Ein Hinweis auf die Gewalttätigkeit der Gesellschaft ist die Tatsache, daß fast alle Männergräber Waffen enthalten. Ein gut ausgerüsteter Krieger mußte ein Schwert haben, einen Holzschild mit einem Eisenbuckel in der Mitte zum Schutz der Hand, Speer, Axt und einen Bogen mit bis zu 24 Pfeilen. Helm und Brünne, mit denen Wikinger auf modernen Bildern häufig dargestellt werden, gibt es nur äußerst selten unter den archäologischen Funden. Helme mit Hörnern, die auf den Bildern so oft zur "Ausrüstung eines Wikingers" gehören, sind unter den echten Gegenständen aus der Wikingerzeit noch nie vorgekommen.

Selbst mit Waffen reichlich ausgestattete Gräber gewähren uns einen Einblick in friedlichere Tätigkeiten: Sichel, Sense und Hacke liegen Seite an Seite mit den Waffen; der Schmied hat seinen Hammer sowie Amboß, Zange und Feile bei sich. Dem Küstenbauern, der häufig in seinem Boot beigesetzt wurde, hat man sein Fischfanggerät mitgegeben. In den Frauengräbern finden wir persönlichen Schmuck, Küchengerät und Werkzeug zur Herstellung von Textilien. Auch Frauen wurden häufig in einem Schiff bestattet. Gegenstände aus Holz, Textil und Leder sind nur selten erhalten geblieben, so daß unsere Kenntnisse große Lücken aufweisen. In einigen wenigen Gräbern hat das Erdreich mehr bewahrt als sonst üblich. Entlang dem Oslofjord liegt direkt unter der Grasnarbe Tonerde, die so dicht ist, daß weder Luft noch Wasser durchdringen können. Einige Gräber sind nach tausend Jahren noch gut erhalten, und hier finden wir die ganze Palette von Gegenständen, die dem Verstorbenen einst mitgegeben wurden. Die Schätze der enormen Wikingerschiffgräber von Oseberg, Tune und Gokstad ­ ausgestellt im Wikingerschiff-Museum auf Bygdøy in Oslo ­ sind ein Paradebeispiel dafür, was unter günstigen Umständen an Material für die Nachzeit erhalten bleiben kann. Wir wissen nicht, wer die Toten sind, aber der Pracht nach zu urteilen müssen sie Standespersonen gewesen sein. Vielleicht waren sie sogar Mitglieder der königlichen Familie, unter der Norwegen später eine geeinte Nation wurde.

Die Gräber von Oseberg, Gokstad und Tune hat man kürzlich anhand einer Analyse der Jahresringe im Eichenholz datieren können. Das Osebergschiff wurde um etwa 815-820 n.Chr. gebaut, und die Beisetzung kann aufs Jahr genau datiert werden, nämlich 834. Die Schiffe von Gokstad und Tune wurden in den 890er Jahren gebaut und unmittelbar nach 900 in die Erde versenkt. In diesen drei Gräbern dienten große Schiffe als Grabraum. Vom Tuneschiff ist nur der Boden erhalten, und Plünderer haben fast alle Ausstattung geraubt. An dem, was übrig ist, können wir dennoch erkennen, daß das Schiff ursprünglich von der gleichen guten Qualität war wie die beiden anderen. Das Tuneschiff ist etwa 20 m lang gewesen; das Osebergschiff ist ungefähr 22 m lang und das Gokstadschiff etwa 24 m.

Zur Beisetzung wurde das Schiff an Land gezogen und in eine in die Erde gegrabene Grube hinuntergelassen. Hinter den Mast wurde eine Grabkammer gebaut, und hier wurde der Tote in seinen besten Kleidern in ein Bett gelegt. Reichliche Vorräte wurden an Bord gebracht, Pferde und Hunde wurden geopfert, und dann wurde ein großer Grabhügel über dem Schiff aufgetürmt. Ein Araber traf Ende des 9. Jahrhunderts auf einer Reise nach Rußland zufällig eine Gruppe von Wikingern, die im Begriff waren, in der erwähnten Weise einen Häuptling zu bestatten. Ibn Fadlan schrieb nieder, was er sah, und diese Aufzeichnungen sind erhalten geblieben. Das Schiff des toten Häuptlings wurde an Land gezogen, und zahlreiche Kostbarkeiten wurden an Bord gebracht. Nachdem man dem Toten seine besten Kleider angelegt hatte, wurde er an Bord in ein Bett gelegt. Eine Sklavin, die sich entschieden hatte, ihm in den Tod zu folgen, wurde ­ zusammen mit Pferd und Jagdhund ­ geopfert. Das Schiff samt Inhalt wurde verbrannt, und über den Überresten wurde ein großer Grabhügel errichtet. Funde von verbrannten Schiffsgräbern haben wir in den norwegischen Ländern sowie in westeuropäischen Wikingergegenden; die großen Gräber im Gebiet des Oslofjords wurden nicht in Brand gesteckt. Im Gokstadschiff wurde ein Mann gefunden, und höchstwahrscheinlich hat es auch im Tuneschiff ein Männergrab gegeben, während im Osebergschiff zwei Frauen bestattet waren. Die Skelette lassen darauf schließen, daß die eine Frau zwischen 50 und 60 Jahre alt war und die andere zwischen 20 und 30 Jahre. Wir werden nie wissen, welche von ihnen die Hauptperson und welche die Begleiterin war.

Sowohl das Oseberg- als auch das Gokstadgrab haben Besuch von Grabschändern gehabt; Schmuck und Luxuswaffen, die es ursprünglich in diesen Gräbern gegeben haben muß, sind verschwunden. Gegenstände aus Holz, Leder und Textil, an denen die Grabschänder nicht interessiert waren, sind demgegenüber bis in unsere Tage erhalten. An anderen Orten haben wir Überreste von ähnlichen Schiffsgräbern, und es scheint Brauch gewesen zu sein, geopferte Hunde und Pferde mitzugeben sowie feine Waffen, ein gut Teil Schiffsausrüstung wie etwa Ruder und Landungsplanken, außerdem Schöpfkellen und Kochtöpfe für die Schiffsbesatzung, Landzelte und häufig importierte schöne Bronzegefäße, die ursprünglich sicher Essen und Trinken für den Toten enthalten haben.

Im Oseberggrab gab es keine Spuren von Waffen, was verständlich ist, da es sich um ein Frauengrab handelt. Alle übrige Ausstattung war jedoch vorhanden. Außerdem wurden der toten Hauptperson Gegenstände mitgegeben, die ihre Würde als Verwalterin und Hausfrau auf einem großen Hof symbolisieren. Es ist anzunehmen, daß die Frauen die Verantwortung für den landwirtschaftlichen Betrieb hatten, während die Männer auf Wikingerzug waren. Die Hausfrau auf Oseberg war sicher wie viele andere ihrer Mitschwestern eine sehr bestimmte und höchst geachtete Dame, ob sie nun gemeinsam mit anderen Frauen am Spinnrad oder Webstuhl saß oder die Aufsicht über die Landarbeit oder die Herstellung von Milch, Käse und Butter hatte. Außer dem Schiff wurden ihr ein Wagen und drei Schlitten mitgegeben. Ob sie ihre Reise ins Totenreich zu Land oder zu Wasser antrat ­ Hauptsache war, daß es standesgemäß geschah. Genug Pferde waren geopfert worden, um sowohl vor die Schlitten als auch den Wagen gespannt zu werden.

Ein Zelt und Kochutensilien, Werkzeuge zur Herstellung von Textilien, Truhen und Schreine, Tröge, Milcheimer und Kellen, Tranchiermesser und Bratpfanne, Spaten und Hacken, Sättel, Hundeketten und vieles andere wurde in dem Grab gefunden. Proviant auf der Reise ins Totenreich waren zwei geschlachtete Ochsen; ein Roggenbrotteig war in einem großen Backtrog angesetzt, und in einem schön verzierten Eimer lagen Wildäpfel für den Nachtisch.

Viele Holzgegenstände sind mit reichen Schnitzereien verziert. Der Hof scheint viele Künstler beschäftigt zu haben. Sogar einfache Gebrauchsgegenstände wie etwa die Deichseln der Schlitten sind mit schönen Schnitzereien übersät. Die wesentlichsten Kenntnisse über die Kunst der Wikingerzeit vermitteln uns außer dem Osebergfund Schmuckstücke kleineren Formats aus Metall. Die Motivwahl ist die gleiche wie die für Holzschnitzereien. Die Künstler interessierten sich hauptsächlich für Tierfiguren. Es handelt sich um Fabeltiere, die sich winden und sich zu einem dichten, wirren Muster verflechten. Die Technik ist hochentwickelt; das heißt, die Holzschneider der Oseberg-Königin haben Holzschneideeisen und Schnitzmesser genauso sicher geschwungen wie ihr Schwert.

Auch dem Mann im Gokstadschiff hat ein begabter Holzschnitzer zur Verfügung gestanden, obgleich dieser Fund nicht so reich an geschnitzten Gegenständen ist wie der Osebergfund. Das Osebergschiff hat einen niedrigen Freibord und ist nicht so seetüchtig wie die Schiffe Gokstad und Tune. Nordseereisen werden ihm wohl trotzdem gelungen sein, und es mag ein typisches Schiff für die Wikingerangriffe um 800 n. Chr. gewesen sein. Eine Kopie des Osebergschiffes stellt unter Beweis, daß es zwar schnell segeln konnte, daß es aber nur schwer zu beherrschen war. Sowohl Oseberg- als auch Gokstad- und Tuneschiff waren höchstwahrscheinlich private Reiseschiffe von Standespersonen und eigentlich keine Langschiffe zur Beförderung von Kriegern. Das Gokstadschiff war sehr seetüchtig und besser als das Osebergschiff. Das haben Kopien bewiesen, die über den Atlantik gesegelt sind. Dank der Form seines Rumpfes ist das Schiff sowohl unter Segeln als auch mit 32 Männern an den Rudern ein schnelles Schiff gewesen. Selbst bei vollzähliger Mannschaft ragt das Schiff nur etwa einen Meter tief ins Wasser. Somit eignete es sich gut für rasche Angriffe auf fremde Küsten. Möglicherweise haben die Erfahrungen, die die Wikinger im frühen 9. Jahrhundert auf ihren zahlreichen Seereisen gesammelt hatten, eine rapide Weiterentwicklung des Schiffskörpers bewirkt. Wenn das stimmt, könnte der Unterschied zwischen dem Osebergschiff und dem Gokstadschiff das Ergebnis der Erfahrungen aus drei Generationen Nordsee-Schiffahrt und stundenlanger Diskussionen zwischen Schiffbauern sein, die Verbesserungen anstrebten.

Die Technik der Schiffbauer wird Klinkerbauweise genannt. Die für die Wikingerzüge gebauten Schiffe waren das Ergebnis von mehr als 1000 Jahren Entwicklung auf nordischem Boden. Die Schiffbauer wollten leichte, elastische Schiffe bauen, die sich Wind und Wellen anpassen und im Einklang mit den Elementen arbeiten würden, statt sich gegen sie zu stemmen. So wurde der Rumpf der Wikingerschiffe auf einem soliden Kiel gebaut, der zusammen mit sanft geschwungenen Steven das Rückgrat des Rumpfes bildet. Planke auf Planke wurde an Kiel und Steven angepaßt und mit Hilfe von Eisennägeln aneinander befestigt. Diese Schale ist es, die dem Rumpf seine Geschmeidigkeit und Stärke verleiht. Nachdem der Schiffbauer der Schale die gewünschte Form gegeben hatte, wurden Spanten aus natürlich gebogenem Holz angepaßt, was zusätzliche Stärke und Widerstandskraft bedeutete. Um die Flexibilität zu erhöhen, wurden Bordplanken und Spanten zusammengezurrt. Querbalken in Höhe der Wasserlinie sorgten für eine Versteifung querschiffs, und besonders solide Holzstämme stützten den Mast. Auf Fahrt segelten die Schiffe mit einem viereckigen Rahsegel am Mast mittschiffs. Bei Windstille oder bei nicht allzu starkem Gegenwind konnte die Mannschaft rudern.

Im Laufe der Wikingerzeit wurden mehrere Schiffstypen entwickelt. In der späten Wikingerzeit gab es Kriegsschiffe, gebaut für Geschwindigkeit und eine große Mannschaft sowie Handelsschiffe, bei denen die Geschwindigkeit eine geringere Rolle spielte und deren Rumpf geräumiger war, um mehr Last aufnehmen zu können. Die Handelsschiffe hatten keine so große Mannschaft und waren eher zum Segeln als zum Rudern geeignet.

Um das Jahr 1000 ebben die Wikingerzüge ab. Die Wikinger waren Christen geworden, und der Religionswechsel hatte sicherlich eine dämpfende Wirkung auf ihren Drang zu plündern. Dänemark, Schweden und Norwegen waren selbständige Monarchien geworden. Das Dasein war selbst in christlichen Königreichen nicht immer von Frieden geprägt; ob Krieg geführt werden sollte oder nicht, hing von den wechselnden Bündnissen der Könige ab. So konnte ein Land zwar einen Krieg beginnen; die Zeit der privaten Kämpfe und auch die der Kolonisierung war jedoch vorbei. Die in der Wikingerzeit geknüpften Handelsbeziehungen blieben bestehen; die nordischen Länder waren jetzt allerdings Teil eines geeinten christlichen Europas.



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